Die kleine Maus mit der großen Seele
Unter den vielen Tieren der Schöpfung, so beginnt eine wunderschöne Fabel, lebte eine kleine Maus mit einer ganz großen Seele. Manchmal meinte die kleine Maus, sie wäre ein einziges Ohr. Und immer dann, wenn sie so „ganz Ohr“ war, wünschte sie sich einen Berg von Watte, um nichts mehr hören zu müssen. Denn was sie hörte, machte ihr Angst; sie glaubte sich von tausend Katzen umstellt.
Manchmal meinte die kleine Maus, sie wäre ein einziges Auge.
Und immer, wenn sie so „ganz Auge“ war, wünschte sie sich einen Berg von Tüchern, um nichts mehr sehen zu müssen.
Denn was sie sah, machte ihr Angst, und sie meinte, sie sitze in einer gräßlichen Falle.
Manchmal meinte die kleine Maus, sie wäre eine einzige Nase.
Und immer, wenn sie so „ganz Nase“ war, wünschte sie sich ein Faß voll Parfüm, um nichts mehr riechen zu müssen . Denn was sie roch, machte ihr Angst; sie meinte, sie säße mitten im Speck voller Gift.
In ihrer großen Angst ging die kleine Maus zum Schöpfer: „Lieber Gott“, sagte sie, „ich habe schrecklich Angst. Ich höre alles, ich sehe alles, ich rieche alles...“
„Sag mir, kleine Maus“, erwiderte Gottvater, „ist es die Wirklichkeit, die du hörst, siehst und riechst?“
„Ja, so ist es“, antwortete die kleine Maus mit der großen Seele.
Aber Gottvater widersprach: „Nein, es ist nicht die Wirklichkeit, die dir Angst einjagt, sondern die Fratze der Wirklichkeit. Ich verstehe, daß du Angst hast. Ich brauche deine große Seele, damit das wirkliche Leben zum Vorschein kommen kann. Aber ich will dir helfen, daß aus dem Hören das Begreifen, aus dem Sehen das Erkennen und aus dem Riechen das Empfinden für meine Wahrheit wird!“
Glücklich ging die kleine Maus mit der großen Seele wieder nach Hause; jetzt wußte sie, daß sie wichtig war und voller Kraft – und nicht allein...
Nach einer Fabel von Peter Spangenberg