Heute möchte ich einfach nur ein Zitat aus "Nie wieder einen einzigen Zug" posten,
fand ich irgendwie sehr rührend und erinnerte mich an meine Herzersehnten Besuche bei meinen Eltern.
Leider wegen der Entfernung nur 1 mal im Jahr, aber sobald ich da bin ergeht es mir ähnlich der Geschichte:
Die Isolation einer verwitweten Raucherin
Das Leben war langweilige Routine geworden. Sie machte nur noch, was
notwendig war, um den Anschein einer normalen Existenz weiter aufrecht zu
erhalten. Aufgewacht, Zigarette geraucht. Sich gewaschen, Zähne geputzt,
Zigarette geraucht. Gefrühstückt, Zigarette geraucht. Ein bisschen geputzt,
Staub gesaugt und eine Zigarette geraucht. Etwas ferngesehen, dabei eine
Zigarette geraucht. Sich ein Butterbrot zu Mittag geschmiert, dabei eine
Zigarette geraucht. Kurz ein Mittagsschläfchen gemacht, dann aufgewacht,
um eine Zigarette zu rauchen. Zeitung gelesen, dabei eine Zigarette geraucht.
Einkaufszettel geschrieben, Zigarette geraucht. Sich zum Einkaufen fertig
gemacht, dabei eine Zigarette geraucht. Zum Supermarkt gefahren, Zigarette
geraucht. Kurz davor, das Geschäft zu betreten, aber dann doch noch mal
Halt gemacht und vorher noch schnell eine Zigarette geraucht. An der Kasse
bezahlt, raus aus dem Laden und gleich eine Zigarette geraucht.
Heimgefahren und angefangen, das Abendessen vorzubereiten, Zigarette
geraucht. Zu Abend gegessen, danach eine Zigarette geraucht. Tisch
abgeräumt, Geschirr gespült und eine geraucht. Noch etwas ferngesehen,
dabei zwei Zigaretten geraucht. Sich gewaschen, Zähne geputzt und sich fürs
Bett fertig gemacht, Zigarette geraucht. Zu Bett gegangen, Zigarette geraucht.
Eingeschlafen.
Seit dem Tod ihres Mannes vor vielen Jahren schien in ihrer normalen,
alltäglichen Existenz für sie nichts von Bedeutung zu sein oder ihr wirklich
Glück zu schenken. Wochen vergingen, in denen sie kaum ein Lächeln
zustande brachte. Fast nichts schien ihr noch Freude zu bereiten. Aber heute
war alles anders. Nach dem Frühstück klingelte das Telefon. Sie griff schnell
nach einer Zigarette. Beim vierten Klingeln hatte sie es ans Telefon geschafft
und nahm den Hörer ab. Es war ihre Tochter. Sie wohnte nur eine Stunde
weit weg, aber ihr Beruf war ihr wichtig, der Terminkalender ihres Mannes war
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Nie wieder einen einzigen Zug!
immer voll, und natürlich mussten die Kinder zur Schule, zum Fußball, zur
Klavierstunde, zum Balletttraining etc. Von daher konnte die Familie ihrer
Tochter sie nur gelegentlich besuchen. Zu ihrer freudigen Überraschung
kündigten sie sich für Samstag an, um den Tag mit ihr zu verbringen.
Zum ersten Mal seit Wochen schien sie wirklich glücklich zu sein. Sobald
sie aufgelegt hatte, griff sie nach einer Zigarette. Den Besuch der Kinder
musste sie planen und vorbereiten. Sie rief beim Friseur an und machte einen
Termin am Nachmittag aus. Als sie einhängte, nahm sie eine Zigarette. Sie
zog sich an und machte sich zum Einkaufen fertig, aber vorher rauchte sie
noch rasch eine Zigarette. Im Auto auf dem Weg zum Einkaufen rauchte sie
noch schnell zwei Zigaretten, denn sie wusste ja, dass sie im Supermarkt
nicht rauchen können würde. Sie schritt schnell die Gänge auf und ab, und ihr
Gang war beschwingt, denn sie freute sich doch so auf den Besuch. Als sie
das Geschäft verließ, eilte sie zum Auto und zündete sich dort eine Zigarette
an. Sie fuhr nach Hause, räumte die Lebensmittel weg, machte sich einen
Happen zu Essen, aß, rauchte eine und verließ dann schnell wieder das
Haus, denn sie hatte ja ihren Friseurtermin. Dort rauchte sie und sprach mit
den anderen Kundinnen, und sie strahlte, als sie ihnen von ihren aufregenden
Wochenend-Neuigkeiten erzählte.
Als sie nach Hause kam, rauchte sie eine Zigarette, und fing an, die Pute
für das Abendessen am Samstag vorzubereiten. Sie rauchte und aß, rauchte
und kochte und rauchte und machte sich fürs Bett fertig. Eine letzte Zigarette,
und sie döste langsam ein, selig und aufgeregt über die Freude, die der
nächste Tag bringen würde.
Als sie aufwachte, griff sie aufgeregt zur ersten Zigarette. Sie stand auf,
wusch sich, putzte Zähne und rauchte eine weitere Zigarette. Sie aß ihr
Frühstück und rauchte wieder. Sie fing damit an, das Festmahl vorzubereiten
und rauchte mehrere Zigaretten. Obwohl sie sich dessen nicht bewusst war,
rauchte sie mehr als gewöhnlich. Jahre der Erfahrung hatten sie gelehrt, dass
sie nicht rauchen durfte, wenn die Enkel in der Nähe waren, also wollte sie
genug Nikotin intus haben, wenn sie auftauchten. In letzter Minute noch ein
wenig Putzen, Kochen und Rauchen. Sie war bereit.
Da klingelt es an der Tür. Sie eilt zur Tür und öffnet. Ihre Familie ist da!
Jeder ist ganz aufgeregt. Sie küsst den Jüngsten, und der sagt, „Och Oma, du
riechst wie ein alter Aschenbecher.“ Sie hatte sich an solche Kommentare
gewöhnt, sie liebte ihn trotzdem. Nachdem sie eine Viertelstunde mit den
Enkeln, ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn gesprochen hatte, gehen sie
und ihre Tochter in die Küche, um das Essen vorzubereiten. Nach ungefähr
zwei Stunden verspürt sie ein leichtes Zwicken nach einer Zigarette. Aber sie
weiß, dass sie nicht rauchen darf. Die Kinder rennen wie verrückt durchs
Haus. Mit jeder Stunde wird ihre Geduld weiter auf die Probe gestellt. Viel zu
laut, denkt sie bei sich, meine Güte, ich wünschte, ich könnte endlich eine
rauchen. Sie fängt an, über leichte Kopfschmerzen zu klagen. Man beschließt
früher zu essen, Großmutter sieht ein bisschen müde und leicht genervt aus.
Alle setzen sich zum Essen. Der Truthahn ist wunderbar, und alle genießen
ihn.
Aber Großmutter scheint es immer schlechter zu gehen. Vier Stunden
sind vergangen, und immer noch keine Zigarette. Nach dem Essen
beschließen alle, dass Großmutter jetzt Ruhe braucht, und dass sie lieber
früher aufbrechen sollten. Sie gibt allen einen Abschiedskuss und bringt sie
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Joel Spitzer
zur Tür. Sobald sich die Tür schließt, eilt sie zu ihrer Schachtel und raucht drei
Zigaretten hintereinander. Endlich fühlt sie sich besser. Sie sitzt in einem
leeren, stillen Zimmer und denkt daran, wie einsam sie sich fühlt und wie
traurig sie ist, dass sie so früh gehen mussten. Aber wenigstens hat sie ihre
Zigaretten. Und es war ein langer Tag. Sie wäscht sich, putzt Zähne, zieht ihr
Nachthemd an und raucht noch eine letzte Zigarette.
Morgen wird wieder ein Tag wie jeder andere.