30.12.2015
09:37 Uhr
Guten Morgen, lieber Alex,
wie ich eben erst gelesen habe, musstest Du gestern Abend ein lang andauerndes psychisches Tief überwinden - geht es Dir heute besser?
Es mag für Dich jetzt s**blöd klingen, aber auch Deine anthrazitfarbigen Gedanken sind die Folge Deiner konsequenten Suchtbekämpfung. Das Nikotin hat an den Rezeptoren angedockt, die für Dopamin, das Glücksgefühle auslöst, vorgesehen sind. Durch übermäßige Qualmerei haben sich diese Rezeptoren vervielfacht und sind jetzt - am Verhungern. Man kann es auch anders ausdrücken: Dein Nervensystem spielt verrückt, Deine Psyche reagiert mit tiefster Niedergeschlagenheit, Selbstzweifeln und Angstgefühlen. Was meinst Du, warum viele im Rauchentzug Heißhunger auf Schokolade bekommen, und zwar pfundweise? Weil Schokolade Bestandteile enthält, die dem Dopamin sehr ähnlich sind und an denselben Rezeptoren andocken. Sollte diese Phase für Dich unerträglich sein, gehe bitte zum Arzt, vielleicht kann ein vorübergehend verordnetes Antidepressivum Dir weiterhelfen.
Und höre bitte auf, Dich so ungerecht abzuurteilen! Ich bin mir sicher, dass Du niemandem gegenüber so ungerecht und unerbittlich urteilen würdest, wie Du es Dir selbst gegenüber im Moment tust. Versuche bitte, zu innerer Ruhe zu kommen und Dich sozusagen "von der Seite aus" einmal selbst zu betrachten. Wenn Du über 40 Jahre lang geraucht hast, bist Du inzwischen wohl Mitte 50 und hast in Deinem Leben viel gearbeitet, viel gekämpft und viel erreicht. Nichts, wofür Du Dich schämen müsstest. Die Härte Deiner Selbstkritik lässt darauf schließen, dass Du selbst mit einem sehr strengen Wertegerüst erzogen worden bist - nach dem Optimum zu streben, bedeutet aber noch lange nicht, sich selbst in Bausch und Bogen ablehnen zu müssen, weil man in einem Punkt Mist gebaut hat.
Sorry, aber das muss jetzt sein: [size=2]Nobody ist perfect - sh** happens![/size]
Hältst Du Hemingway, Goethe und Einstein für Versager? Hemingway war ein schwerer Alkoholiker, Goethe ein krankhafter Geizkragen und Einstein ein notorischer Frauenheld... Warum erwartest Du von Dir selber Perfektion, wenn selbst solche Vorbilder dieses hehre Ziel nicht erreichen konnten? Wir gehören in dieselbe Generation, die sich in ihrer Jugend der Gefahr des Rauchens gar nicht bewusst war, ganz im Gegenteil: Slogans wie "Der Geschmack der Freiheit!" - "Ich rauche gern!" - "Rauchen macht schlank!" waren an der Tagesordnung. Und als Teenager ist man sicher nicht so kritisch, diesen Stuss zu hinterfragen, wenn es die Umwelt einem nicht abnimmt, wie es heute - zum Glück! - der Fall ist. In unserer Generation sind weit über die Hälfte in die Falle getappt, und bis man den Blödsinn erkennen kann, ist man längst abhängig. Nur knapp ein Drittel zählt heute immer noch zu den Rauchern, also hat noch nicht einmal die Hälfte der Raucher die Kurskorrektur eingeleitet. Oder anders ausgedrückt: Du gehörst zu denen, bei denen "der Groschen gefallen" ist und die sich unangenehme Tage des Entzugs zumuten, um endlich wieder ihre Freiheit zurück zu gewinnen.
[size=2]Das ist eine toughe Kurskorrektur
und hat nichts mit Weichei zu tun![/size]
Nimm Dir bitte die Zeit und denke in Ruhe darüber nach, was Du in den letzten Tagen schon alles zum Positiven verändert hast. Und entwickle bitte auch Dir gegenüber Geduld, denn Du bist im Begriff, Dein ganzes Leben umzukrempeln. Eine Quadratur des Kreises, also ein Zurückdrehen der Uhr vor den Einstieg in die Qualmerei, wird auch Dir nicht gelingen, also akzeptiere bitte, dass Du jahrzehntelang ein Dussel warst, wie wir anderen auch. Aber auch im fortgeschrittenen Alter kann man noch dazu lernen, und das tun wir im Moment alle.
Und nun wünsche ich Dir einen rauchfreien Tag, an dem Du Gnade vor Recht ergehen lassen kannst, vor allen Dingen dann, wenn Dich Dein Über-Ich wieder beißen möchte... :riesengrinser:
Liebe Grüße und bis bald, Brigitte
P.S.: Auch mein Schwager hat an der "Schaufenster-Krankheit" gelitten und durch Gehtraining und sofortigen Rauchstopp die Operation verhindern können. Bei Dir wird das auch gelingen, Kopf hoch!